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Peter Hamm
Die Einfrauexpedition zum Eintagsvolk zu Peter Handkes neuem Roman =Auf Verwandlungen geht unsere tiefste Lust' Hugo von Hofmannsthal
Die Buecher Peter Handkes werden fast alle bestimmt von zwei nur scheinbar gegenlaeufigen Bewegungen: die hin zum Aufbruch - und die hin zur Heimkehr. Langsame Heimkehr - so der Titel des Romans, der Handkes Wende vom kritischen Sprachspieler zum Kundschafter der sichtbaren Welt markiert - ist bei ihm Ziel jeden Aufbruchs. Anders als die beruehmten Reisenden der Weltliteratur, den Don Quijote einmal ausgenommen, sind die reisenden Protagonisten der Romane Peter Handkes weniger Abenteurer als Tagtraeumer, die gegen die Trugbilder einer sich als Wirklichkeit aufspielenden gesellschaftlichen Welt die Bilder - Gegenbilder - einer eigentlichen Welt freiphantasieren und dabei immer auch ein neues Bild von sich selbst zu gewinnen suchen. Was sie als Abenteuer erleben, sind nicht die Katastrophen und Alptraeume einer der Willkuer der Geschichte ausgelieferten Gesellschaft als vielmehr die alltaegliche Lebenswelt des je einzelnen Menschen. Diese Lebenswelt gilt ihnen als eine Art Gegengeschichte, die fuer sie, je mehr sie das Unscheinbare im alltaeglichen Ablauf als das Ewige entdecken, ebenso zu einer metaphysischen Erfahrung werden kann wie die Vertiefung in die Natur und deren Gesetzmaessigkeiten. Hier wird ihnen das zuteil, was sie so auffallend unterscheidet vom Gros der zeitgenoessischen Romanhelden, naemlich eine an Goethe gemahnende Seinsfroemmigkeit. Mit dem von ihm als =mein Held= apostrophierten Goethe verbindet Peter Handke nicht nur das Naturverstaendnis - der Naturglaube -, sondern darueberhinaus der heftige Harmonisierungswille. So unmoeglich es ihm ist, vor dem Elend der Welt die Augen zu verschliessen, so strikt verbietet er sich, schreibend =einen Elendsblick auf die Welt zu werfen=. Selbst noch Handkes Beschreibungen seiner beiden Reisen durch das von der Nato bekriegte =Rest-Rest-Jugoslawien=, die dem Abweichler vom hiesigen Unisono-Chor der selbstgerechten Schuldzuweiser so viel Haeme, Hohn, ja Hass eintrugen, sind ohne diesen Hintergrund ueberhaupt nicht zu verstehen. Auch dort war Peter Handke nicht als selbsternannter Geschichts- oder Politexperte unterwegs, sondern als ein auch in der groessten Bedrueckung beharrlich die gegengeschichtlichen Lebenswelten aufspuerender Schriftsteller, der eben diese und nicht ein politisches System bedroht sah. Auch dort ging es ihm - in seinen eigenen Worten - um =jenes Dritte, welches bei dem deutschen Epiker Hermann Lenz nebendraussen zu sehen oder sichten ist=, um friedliche Gegenbilder zu den gemachten und gelenkten Medienbildern. Eine Reise beschreibt auch Peter Handkes neuer grossmaechtig verzweigter Roman =Der Bildverlust=. Wenn diese auch nicht ins ehemalige Jugoslawien, sondern in die spanische Sierra de Gredos fuehrt, und wenn dazuhin nicht Peter Handke selbst oder irgendein alter ego von ihm diese Reise unternimmt, sondern eine Frau, genau eine =Bankfrau=, so haben sich doch jene Erfahrungen, die Handke im zerbombten =Bruderkriegsland= Jugoslawien machte, und ebenso jene, die er mit der Niedertracht machen musste, die ihm nach Publikation seiner Jugoslawien-Aufzeichnungen entgegenschlug, tief eingegraben in dieses oft beaengstigend bittere, dann wieder ironisch verwegen verspielte und zuletzt doch wunderbar beguetigende Buch, das einmal vielleicht als Peter Handkes Krieg und Frieden gelten wird. Oder doch eher als sein Don Quijote? =Der Bildverlust=: diesen Titel hatte Handke schon fuer ein frueheres Buch vorgesehen, wie er in seinem 1994 erschienenen Roman =Mein Jahr in der Niemandsbucht= verriet (mit dem malizioesen Zusatz, sein Verleger habe ihm diesen Titel als zu wenig verkaufstraechtig ausgeredet). Dort war auch bereits die Rede von jenen =beheimatenden Bildern=, in die sich der Ich-Erzaehler immer dann, wenn ihm etwas bedrohlich wurde, Zuflucht suchend rettete - in die er =verschwand=. Unter den Bedrohungen, denen Peter Handke sich - und eben nicht nur sich, sondern unsere Welt, unsere Lebenswelten - ausgesetzt sah, als er 1999 im Krieg zweimal Jugoslawien durchquerte, wollten sich diese beheimatenden Bilder bei ihm nicht oder fast nicht mehr einstellen, und er erfuhr dort - in seinen unter dem Titel =Unter Traenen fragend= veroeffentlichten =nachtraeglichen Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen= hat er davon bewegend berichtet - jenen Bildverlust, den jetzt auch die Heldin - Heldin? - seines neuen Romans zu erleiden fuerchtet. Unter dem sintflutartigen Andrang =allgegenwaertiger Kauf-, Veranstaltungs-, Ereignis- und sonstigen Reiz-Bilder= und dem der serienmaessig fabrizierten Droh- und Schreckensbilder haben auch fuer sie diese anderen, beheimatenden Bilder ihre Kraft als Gegenbilder fast eingebuesst, und sie glaubt, den drohenden Bildverlust nur abwenden zu koennen durch einen Ausbruch aus ihrer gewohnten Geschaefts- und Geldwelt und den Aufbruch zu einer Reise - sie nennt sie auch, Expedition - in jene Sierra de Gredos, die sie schon bei frueheren Reisen als besonders bildergesaettigt und bilderauffrischend kennengelernt hat. Doch was sind ueberhaupt diese beheimatenden Bilder, =Bilderfunken= oder =Bilderblitze=, die diese Bankfrau, ganz metiergerecht, auch als ihr =Kapital= bezeichnet? Es sind die wie aus Zeit- und Raumferne kommenden oder Zeit und Raum aufhebenden, eher beilaeufig aufgenommenen Bilder aus der Kindheit und Jugend, aus der Natur, dem Alltag oder von Reisen, aus Buechern auch, keine Traum- oder Nachtbilder der Regression also, sondern Tagbilder, die unser Innen und Aussen verbinden zu etwas Groesserem, Bestaendigen, Bilder nicht als Abbilder, sondern als Inbilder, die in ihrer Summe unser eigentliches Weltbild ausmachen und dabei die Kontinuitaet der Welt voraussetzen und fortsetzen. In Peter Handkes Worten: =Die Bilder als die Weltbestandsschleppe, ueber die ganze Erde streifend und sie, die kleinsten Orte und Winkel, belebend=. Weltliche Epiphanien koennte man sie auch nennen, jedenfalls die noetige Nahrung fuer unsere welterweiternden Tagtraeume ebenso wie fuer unsere Augenblicke vollkommener Weltvergessenheit. Wer aber ist sie, die namenlose Bankfrau aus der ebenso namenlosen =nordwestlichen Hafenstadt= (es koennte, laut Autor, auch eine Flusshafenstadt sein wie Basel, Koeln, Rouen, Newcastle oder Passau)? Geboren in einem ostdeutschen Dorf, mit slawischen und arabischen Vorfahren (!), die ihr freilich nur umrisshaft vertraut sind, hatte sie als Waise ein engeres Verhaeltnis zu Tieren als zu Nachbarn und lebte in der =fast alleinigen Gesellschaft der Dinge= - und der Buecher. Wir duerfen uns sie, deren Schoenheit so oft betont wird, als eher androgynes Geschoepf denken, wozu passt, dass sie kurzzeitig auch eine Art Filmstar war, bevor sie dann ins Bankfach wechselte und damit zu einer Taetigkeit, bei der ihr ihre angeborene Begeisterungsgabe und -bereitschaft allmaehlich abhanden kam und zu =blosser Geistesgegenwart= wurde - =und selbst die Geistesgegenwart zuletzt verdraengt von nichts als Lauern= in einem Milieu, wo =jeder vom anderen und vor allem von der anderen den Nackenschlag erwartete=. Obwohl - oder weil? - sie ausserhalb ihrer Bankgeschaefte fast nur mit Leuten, die kein Geld besitzen, Umgang pflegt, darunter etwa mit dem =Stadtrandidioten=, hat sie viele Feinde, und von einem erfaehrt sie die Feindschaft in der vielleicht schlimmsten Form: in der Liebe. Sie aber liebt in einer Zeit, in der das Wort Liebe inflationaer wie nie zuvor geworden ist, niemanden oder nur - nur? - ein Bild von der Liebe - und dabei gibt es fuer sie keinen Moment ohne Begehren. =Sie war klar ohne Liebhaber=, heisst es von ihr, und wirkte doch staendig und gewaltig geliebt, leuchtend vor Geliebtsein, Geliebtwordensein=. Versteht sich, dass sie ihre =laengst auf und davon gegangene Tochter= Lubna liebt, doch als sie noch mit dieser zusammenlebte, konnte sie diese Liebe nur dergestalt aeussern, dass sie ihr Kind unentwegt retten wollte vor lauter eingebildeten Gefahren, was das Zusammenleben, bei fehlendem Vater, oft dramatisch machte. Auf ihrer Reise, bei der sie sich =zurueckverwandelt in die Abenteuerin, die sie schon immer gewesen war=, moechte sie auch das Bild dieses Kindes wiederfinden, mit dem sie schwanger ging bei ihrer ersten Wanderung durch die Sierra de Gredos. =Gaebe ich mein Kind, gaebe ich meine Verschollene auf, so gaebe ich auch die Welt auf=, erklaert sie dem Autor, den sie angeheuert hat, ihre Geschichte - nicht die ihrer Karriere, sondern die ihrer Reise und ihrer Verwandlungen auf dieser Reise - aufzuschreiben. Denn sie ist keineswegs selbst die Erzaehlerin, sondern sie ist der Geist der Erzaehlung und als dieser zugleich eine allegorische Figur und eine ganz leibhaftige Frau. Zu Beginn mutet ihre winterliche Reise so alptraumhaft an wie die Welt, aus der sie gerade kommt, mit stundenlangen Staus und Umleitungen unterwegs, Krieg im Radio und Bombengeschwadern in der Luft. Nuevo Bazar, die erste Reise-Station (wo es noch eine letzte Filiale ihrer Bank gibt, die sie freilich meidet) ist der Inbegriff aller Unorte und allen Unheils unserer Welt. Hier, wo es kein richtiges Tageslicht, sondern nur noch Kunstlicht gibt, fast jedes Haus ein musikberieseltes Kauf- oder Lagerhaus ist und nicht die Wechsler aus dem Tempel getrieben werden, sondern =der einzige noch geltende Tempel jener der Wechsler ist=, begegnen sich alle gleichermassen mit Misstrauen und Verdaechtigungen und es treffen hier aufeinander =Erb-Hass, Erb-Ekel, Erb-Wut gegen alles und jedes=. Die Volksvertreter treten als =Wortkriegsfuehrer= auf und auf allen Fernsehkanaelen werden Mord- und Totschlag live uebertragen. Hier, =zweitausend Lichtjahre weg von daheim und von der Liebe=, erfaehrt unsere Abenteuerin ihre erste Verwandlung: die Verwandlung in einen Menschen, der fuer einmal =fremd und niemand mehr= ist und gerade dadurch frei, von einer anderen, einer =groesseren Zeit= zu traeumen und von einer Erzaehlung davon, die =der Epoche zuwiderlaeuft=. Als sie nach einer mit Schlafwandeln verbrachten Nacht (aufgewacht ist sie in ihrer Massenherberge in den Armen des jungen Maedchens aus der nachbarlichen Schlafkoje) am naechsten Morgen ihren Landrover zertruemmert und ausgebrannt vorfindet, ist ihr das keine Anzeige wert, sondern nur ein =Recht so!= Bald erlebt sie als Passagierin eines UEberlandbusses, dessen Fahrgaeste ihr, der einstigen Doerflerin, seltsam vertraut und gleichsam als eine Art =Friedenstruppe= vorkommen, ihre naechste Verwandlung: die einer fast mystischen, dabei keineswegs unkomischen Einswerdung mit diesen Mitreisenden, die alle durch die gemeinsamen Sinneseindruecke auf der Fahrt durch die der Sierra vorgelagerte Ebene von Polvereda =fuer einander offen und durchlaessig= geworden sind. =Eine war hochschwanger, und ich mit ihr... einmal erbrach ich mich, nein, das war eines der Kinder im stark geschuettelten Heck... allesamt bluteten wir aus den Nasen, auch wenn nur ein einziger blutete=. So erzaehlt sie spaeter ihrem Autor von dieser Verwandlung, und der bemerkt: =Sie erzaehlte weiter, mit einer Stimme, die immer weniger die einer Frau war, sondern die von Frau, Mann, Kind und Greis(in), von jung und alt in einem=. Analog zu dieser Verwandlung verwischen sich jetzt Raum und Zeit immer mehr. Einmal bei einem Zwischenhalt wird der kranke Karl V. auf einer Saenfte vorbeigetragen (freilich koennte es sich auch um den traditionellen alljaehrlich Nachvollzug der letzten Reise des Kaisers handeln), dann kreuzt ein mittelalterlicher Steinmetz den Weg, und an den Waenden der Ruinen, von denen die Landschaft ebenso uebersaet ist wie von Kadavern, finden sich hebraeische, kyrillische, armenische und arabische Inschriften. Nein, in eine zeitlose Idylle fuehrt diese Reise nicht. Auch die Natur zeigt ueberall grauenvolle Verwuestungen und immer wieder wird das Bild dieser friedlichen Reisegesellschaft von Bildern des Unfriedens und Schreckens - Tiefflieger, bauchlastige Hubschrauber - bedroht, schlaegt das neu gewonnene Daseinsgefuehl unserer Bankfrau jaeh in Todesangst um. Als der Sierra-Bus, der zugleich fahrende Leihbibliothek ist, bei einem Zwischenaufenthalt von lauter Buecherhungrigen heimgesucht wird, sind das nicht die erwarteten laendlichen Hausfrauen oder Jugendlichen, sondern =eher staedtische, ja hauptstaedtische Gestalten=, auch wenn sie Kaftane, Saris, Fez, Burnusse oder Turban tragen. Es sind Vorboten jenes Volks von Seltsamlingen, das bald in Pedrada und Hondareda - =in den Eingeweiden der Sierra de Gredos= (Cervantes) - fuer eine naechste Verwandlung unserer bilderhungrigen Reisenden sorgen wird. Pedrada hat keine AEhnlichkeit mehr mit dem Ort, den sie von frueher zu kennen glaubte. Statt eines Hotels erwartet sie dort eine Zeltsiedlung mit offenen Feuern um die Zelte und von Generatoren erzeugtes Kunstlicht nur in den Zelten. An der Nachtmahltafel des riesigen Herbergszelts trifft sie unter den dutzend Gaesten nicht nur eine beruehmte Illustrierten-Autorin (die jetzt aber ohne Handy, ja ohne jedes Gepaeck unterwegs ist, =um das Sprechen und ueberhaupt die Sprachen zu verlernen=), auch Karl V. ist da (und tut sich nun als Saenger hervor) und da ist der mittelalterliche Steinmetz (der als Fussgaenger offenbar rascher vorankam als ihr Bus), in dem sie das Bild ihres geliebten Bruders zu erkennen glaubt. Dieser Bruder, wiewohl =das Muster eines Kontaktmenschen=, dem alle Frauen verfielen, sah sich seit jeher als =ein Feind des Menschengeschlechts=, und jetzt, gerade aus dem Gefaengnis entlassen, wo er als =Terrorist= einsass, reist er, parallel zur Reise seiner Schwester, nachhause in sein Land im Osten, das es eigentlich gar nicht mehr gibt, fuer das er aber sogar einen Mord auf sich zu nehmen bereit ist. Wie der Don Quijote ist Handkes Roman reich an Neben- und Zwischengeschichten wie etwa dieser vom Bruder, der noch nicht weiss, was seine Schwester schon weiss, dass naemlich =zur Buch-Zeit gegen nichts und fuer nichts ein Kaempfen mehr moeglich war=. Unter den dutzend Abendmahl-Gaesten findet sich auch einer in der Rolle des Judas. Es ist der =vom Weltrat oder sonstwem geschickte offizielle Beobachter=, ein smarter Typ mit Pferdeschwanz (der ihm spaeter, von wem wohl?, abgeschnitten wird), =mit einer wie jahrelang an Mikrophonen und in Radiostudios geschulten Stimme= und stets voll auf der Hoehe der Geschichte und des Zeitgeists. Es war ein genialer Einfall von Peter Handke, dass er jenes Volk von Aussteigern oder Ausgestossenen, das seine Buchheldin in Pedrada und am naechsten Tag bei ihrem Fussmarsch durch die Sierra in der grossen Talsenke von Hondareda erlebt, vornehmlich aus der Perspektive dieses Rationalisten= und =Realisten= also ex negativo beschreiben laesst. Fuer ihn mit seinem =immer gleichbleibenden, keine Miene verziehenden Laecheln, fuer das er in der ganzen zivilisierten Welt bekannt war=, sind die aus allen Welt- und Sprachgegenden hierher Versprengten durchwegs Unzivilisierte, Zukurzgekommene, hoffnungslose Sektierer, antriebslos und apathisch, dem =unproduktiven Traum von einer verkehrten Welt= nachhaengend, kurz =ein Schandfleck in dem sonst ueberall endlich den zeitgenoessischen Kriterien genuegenden Erdatlas=. Ihr =unvergleichlicher Atavismus= zeigt sich ihm in ihrer voelligen Uninformiertheit, wissen doch diese =Barfussgeher=, die =in Verschlaegen, Steinhoehlen und Erdgruben hausen wie die ersten oder die letzten Menschen=, noch nicht einmal, =dass inzwischen der Eiffelturm bombardiert wurde= (geschrieben vor dem 11. September 2001!), kennen sie doch nur =muendliche Nachrichtenweitergabe nach der Messe, der Sabbatfeier oder dem Freitagsgebet in der Moschee=. Als ebenso atavistisch brandmarkt er nicht nur ihren Verzicht auf den bargeldlosen Zahlungsverkehr und jedes Bankwesen - allen Ernstes betrachten sie =den Tau als ihr Hauptkapital=! -, sondern auch ihre Berufung auf ein nie aufgeschriebenes =Nachbarschaftsrecht=, ihr =Gesetz der guten Nachrede= oder ihre ihm voellig uebertrieben scheinende Gastfreundschaft, von der er doch selbst profitiert, auch wenn er diesen Leuten hier im uebrigen gaenzlich gleichgueltig ist und ihn nicht einmal die Tiere der Beachtung wert finden. Was der offizielle Beobachter dieser =Rueckfall- oder Robinson-Rotte= sonst noch ankreidet sind neben ihrem Gutmenschgehabe und ihrer Selbstgenuegsamkeit (Konsumverzicht!) ihre Muessiggeherei - =Grillenhoerengehen= gehoert zu ihren Lieblingsbeschaeftigungen -, ihre Taenze (=samt Jauchzen, Fussaufstampfen und Ringelreihen=) sowie das =Fehlen der erotischen Kultur (jedenfalls in der OEffentlichkeit)=. Am meisten aber empoert ihn, in dessen Drohwoerter-Katalog nur noch das Wort =Fundamentalismus= fehlt, dass diese =Neuwilden unter der Hand etwas zurueck in unsere Welt schwindeln moechten, das darin seit Jahrhunderten nichts mehr zu sagen, zu deuten und zu bestellen hat: den Mythos - den Mythos von einem, der auszog, um eine Fassung zu gewinnen, und derart eine neue, in Wahrheit laengst verjaehrte Ritterschaft propagierte.= An dieser Stelle nun bringt Peter Handke explizit Cervantes ins Spiel. So wie dessen Don Quijote Einspruch war sowohl gegen die verlogenen Ritterromane seiner Zeit wie gegen die brutale Wirklichkeit dieser Zeit selbst, wird hier Peter Handkes Roman zum Einspruch nicht nur gegen die gleichmacherischen (globalisierenden) Tendenzen der =Wirklichkeitsmenschen= (Hermann Lenz) unserer Zeit, sondern zum Einspruch gegen eine unentwegt als aktuell auftrumpfende, vornehmlich aber auf Knalleffekte spezialisierte Gegenwartsliteratur, die glaubt, ohne Mythos - ohne Maerchen oder Metamorphose - auskommen zu koennen. Durch Metamorphose - eine Verwandlung durch Entrueckung - hat Cervantes seinen Don Quijote die schrecklichen Pruegel, die er von den Wirklichkeitsmenschen seiner Zeit bezog, vergessen lassen und ihm ein Hoechstmass an Glueckserfuellung in seinem Kampf fuer das Edle und Gute gewaehrt - und erst an seiner =Heilung vom Don Quijotismus= (die seine Art des Bildverlusts bedeutete) ist dieser weltfremde, weltbewegende Ritter von der traurigen Gestalt schliesslich gestorben. Wie Handke selbst, der im Roman =Die Niemandsbucht= bekannte, er fuehle sich zu den Gescheiterten und Versagern seit jeher schon hingezogen - so als seien sie die Richtigen=, erkennt auch seine Bankfrau in dem vom offiziellen Beobachter so geschmaehten Volk der Verlierer die fuer sie Richtigen. Dass sie sich von einer Bankfrau in eine Exbankfrau verwandelt, die hier in der Sierra de Gredos dem Bankwesen, das ihr =nicht erst seit heute boese krank= erscheint, ebenso abschwoert wie jedem anderen Macht- und Erfolgsspiel, verdankt sie diesem - wie sie es nennt - =Volk der UEberlebenden=. Und in ihm sieht sie vor allem lauter Einzelne. Ob das der fruehere Richter ist (der in einer Welt, wo sich jeder zum Richter - Weltenrichter - aufwirft, nie mehr urteilen und schon gar nicht mehr verurteilen will), ein vor seiner Familie geflohener Missionar oder der vor der Langeweile geflohene Gesteinsforscher, die =abgedankte Wirtschaftskoenigin= oder der abgedankte Koenig (dessen =Palast= jetzt ein =Teil des Steinchaos= ist wie die Mehrzahl der uebrigen Bauten, =womoeglich noch niedriger, schraeger und schlupfwinkelhafter=). Durch sie alle, von denen Handke so witzige wie zart melancholische Portraets zeichnet, wird seine Sierra-Reisende wieder zu einer Staunenden, die ihre Kindlichkeit wiederfindet und damit das, was Goethe =kindlich - unueberwindlich= nannte. Es ist ein =Staunen ueber nichts und wieder nichts=, das ihr ermoeglicht schlechthin alles und zumal die Naturerscheinungen ereignishaft zu sehen (=auch wenn sich nichts ereignete als das Bergangehen, das Wehen der Luft und das Blauen des Himmels=). Und was fuer ein Ereignis, was fuer ein Staunen, wenn die von Handke auch gern und ueberhaupt nicht abschaetzig =Idiotin= genannte Exbankfrau in den Gestalten der grossen Gletscherspalte von Hondareda nicht nur den =Stadtrandidioten= ihrer Flusshafenstadt, sondern ploetzlich viele vertraute Gesichter entdeckt, darunter auch das ihres nun nicht mehr mordgierigen Bruders! Und sind da nicht auch einige jener =Geldmaechtigen= zu sehen, die schon seit jeher, =kaum waren sie ihren Tempeln entronnen, zu hintergedankenfreien Bergsteigern, Kajakfahrern, Gaertnern, Liebhabern= wurden? Selbst der offizielle Berichterstatter ist inzwischen als ein offenbar Verwandelter oder Bekehrter hier angelangt; noch waehrend er seine Schmaehschrift gegen die =Hondareda-Idioten= verfasst und sie als =Weltgefahr= hinstellt, ist er ihrer Art der Anschauung verfallen und verfallen erst recht dem =entwaffnenden Blick= dieser seltsamen Heiligen und ritterlichen Frau, der er sich nun am liebsten als =Knappe= anschliessen wuerde. Auf dem Weg zu =ihrem= Autor in seinem Manchadorf, mit dem ihre langsame Heimkehr beginnt, als sich ihr beim Abschiedsblick auf die Talsiedlung von Hondareda diese zu einer Millionenstadt wie Sao Paulo oder Shanghai weitet, und waehrend noch einmal ein wahrer Bilder-Regen auf sie niedergeht, entdeckt sie dann, dass sie fast ein Jahr lang in der Sierra de Gredos unterwegs war. Oder ist sie womoeglich ueberhaupt nie fortgewesen, so wie ihre Tochter, die sie bei einem Anruf zuhause am Apparat hoert, vielleicht auch nie wirklich verschwunden war, sondern nur - nur? - das Bild von ihr? War diese ganze Reise nur Einbildung, das Volk von Hondareda nur ein Eintagvolk, nur ein Tagtraum, eine Phantasie? Als ob ohne Einbildungskraft - und das heisst doch ohne die Kraft der Bilder - auch nur ein einziger Tag zu ueberstehen waere! =Phantasie: Krone der Vernunft=: so emphatisch feiert Peter Handke auf der vorletzten Seite seines Buches das, was seine Protagonisten seit jeher zum Aufbruch und ihn zum Erzaehlen davon brachte und beim Erzaehlen davon leitete. Diesmal also dem Erzaehlen eines ebenso phantastischen wie vernuenftigen, ebenso duesteren wie lichten Maerchens, das zwischen schlimmster Bedrueckung und schoenstem UEbermut kuehn balanciert und in seiner Bilder- und Weltfuelle, seinem literarischen und philosophischen Anspielungsreichtum und seinen tollen Stilspruengen beim ersten Lesen kaum zu erfassen ist, - als blosses =Lesefutter= ohnehin so wenig taugt wie als =Filmvorlage=. Ein Maerchen, das wie die vollkommene Einloesung einer Goethe-Maxime wirkt: =Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum, / Und wie du reisest, danke jedem Raum, / Bequeme dich dem Heissen wie dem Kalten, / Dir wird die Welt, du wirst ihr nie veralten!= Ein Meisterwerk? Peter Handke, der derartige Etikette wenig schaetzt, hat in einem Gespraech ueber Emmanuel Bove betont, man duerfe =nie zu meisterlich werden=, sondern muesse =immer suchen, immer ein Anfaenger bleiben=. Zu solchem Suchen gehoert beim Wagnis des Erzaehlens wie beim Wagnis der Liebe stets das Zagen, die Unsicherheit. Es sind die vielen zaghaften Momente im Roman =Der Bildverlust=, die denen des verwegen phantasierenden Zupackens erst ihr ganzes Gewicht geben und dem Ganzen seine unverwechselbare Handkesche Aura. Wenn in deutscher Sprache noch Weltliteratur geschrieben wird, dann sieht sie so aus wie die von Peter Handke.
Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002. 760 Seiten.
zurueck
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Untertagblues= von Peter Handke
Die Herbstsaison eroeffnet die neuebuehne mit dem neuen Stueck von Peter Handke, dem „Untertagblues=. Die Genrebezeichnung =Stationendrama= ist wortwoertlich zu nehmen: Peter Handkes neues Theaterstueck spielt in einer fahrenden U-Bahn, die zwanzig Szenen entsprechen den zwanzig Stationen der befahrenen Strecke.
Ein „wilder Mann= ist mit der Untergrundbahn unterwegs. Seine Seelenlage ist nicht einfach nur angespannt, nein: hochexplosiv. Mindestens. Wer immer da neben ihm steht oder ein- und aussteigt in den vielen Stationen von Peripherie zu Peripherie einer Metropole – alle Mitfahrer steigern nur seine Wut. Der Ekel des „Wilden Mannes= ist allumfassend, nichts ist Scheinleben, Verlogenheit und Haesslichkeit um sich herum nimmt er wahr, und immer mehr redet er sich in Rage, wirkt angsteinfloeßend und komisch zugleich. Er erfindet den einzelnen Passagieren Geschichten, die unversehens zu Beschimpfungen werden; er liest ihnen die Leviten... bis eine Zusteigende ihn zum Schweigen bringt und den Konterpart gibt, ohne dass er noch einmal zu Wort kommt.
Mit Katrin Ackerl Konstantin, Eleonore Schaefer, Klaus Fischer, Nobert Schueller und Arturas Valudskis
Regie: Erik Jan Rippmann
Premiere 17. September 2005
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